Sebastian Meineck and Ingo Dachwitz
Dieses Jahr konnten wir erstmals im Detail nachvollziehen, wie invasiv und kleinteilig uns Werbefirmen und Datenhändler im Netz kategorisieren. Denn Microsofts Datenmarktplatz Xandr hat versehentlich ein riesiges Dokument veröffentlicht, das ungeahnte Einblicke hinter die Kulissen die Werbeindustrie erlaubt. In der Folge haben mehrere Datenschutzbehörden aus Deutschland und der EU mitgeteilt, die betroffenen Firmen und ihr Geschäft zu prüfen. Aller Cookie-Müdigkeit zum Trotz zeigt unsere Recherche: Aufgeben ist nicht. Es gibt Alternativen für das Geschäft mit unseren Daten, für die es sich zu kämpfen lohnt.
Was auch immer wir im Internet tun, es wird aufgezeichnet und ausgewertet, um uns zielgerichtet Werbung anzuzeigen. An diese triste Realität haben sich viel zu viele Menschen längst gewöhnt. Wo genau unsere Daten landen, wenn wir Websites aufrufen oder Apps nutzen, das können die wenigsten nachvollziehen. Bis jetzt.
Durch ein Dokument, das eigentlich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war, konnten wir dieses Jahr einen einmaligen Einblick gewinnen. Es ist die Angebotsliste von Xandr, einem der größten Datenmarktplätze der Werbewelt. Sie enthält mehr als 650.000 unterschiedliche Zielgruppenkategorien - also Schubladen für Menschen, um sie mit Targeted Advertising zu erreichen.
Bei einigen dieser Kategorien möchte man laut auflachen, bei anderen bleibt einem das Lachen im Halse stecken. Ob „fragile Senioren“ oder „leidenschaftliche Liebhaber“, ob shopping-versessene Mütter oder Menschen mit Essstörung, ob deutsche Soldat:innen oder „Geringverdiener ohne Orientierung“ – sie alle lassen sich durch die Werbeindustrie gezielt ins Visier nehmen.
„Diese Liste ist das gewaltigste Dokument über den globalen Datenhandel, das ich je gesehen habe“, sagt der Wiener Tracking-Forscher Wolfie Christl und spricht von einem Skandal. Florian Glatzner vom Verbraucherzentrale Bundesverband spricht gar vom „Snowden-Moment der Online-Werbebranche". Denn dass Werbeindustrie und Datenhändler uns überwachen, wussten wir schon lange – jetzt haben wir schwarz auf weiß, wie invasiv und detailliert das passiert.
Wochenlang haben wir das Dokument ausgewertet, unter anderem mit Hilfe des Datenjournalisten Johannes Gille und unserer Kollegen von The Markup aus den USA. Wir decken Hunderte äußerst bedenkliche Segmente über die Schwächen und das Verhalten von Bürger:innen aus 15 EU-Ländern auf. Wir belegen erstmals, wie stark inzwischen auch deutsche Firmen am Geschäft mit unseren Daten mitverdienen. Und wir dokumentieren, auf welch tönernen Füßen dieses Business rechtlich steht.
In unserem Vortrag präsentieren wir die wichtigsten Ergebnisse unserer
[Artikel-Serie](https://netzpolitik.org/tag/die-xandr-recherche/) und die Methoden unserer Recherche. Mehrere internationale Medien haben die Recherche bereits aufgegriffen und Analysen für die USA, Australien, die Niederlande und die Schweiz veröffentlicht
Wir zeigen, wo genau Interessierte an die Recherche anknüpfen können – und wie Nutzer:innen selbst aktiv werden können. Nicht zuletzt machen wir klar: Das System kann weg, denn es gibt längst Alternativen zur Überwachungsindustrie.